Sitte.[]
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Sitte, die, der Gewohnheit liebstes, mit Schönheit und Anmuth eng verschwistertes Kind, ist jenes wunderbare geistige Wesen, das alles im innern und äußern Leben umfaßt, und mit den sichtbaren und unsichtbaren Fäden der Liebe so innig um schließt, daß der Mensch von ihm nicht lassen kann, er zerreiße denn sein ganzes Leben. Die Sitte besänftigt und stillt im Herzen des Menschen den Kampf der Triebe und Gelüste, des Sinnlichen mit dem Himmlischen, durch die Gewalt und den Zauber des Gewöhnlichen, durch die Hoheit des Festen und Bleibenden. Vom Gemeinen und Irdischen, das sie schicklich ordnet, steigt ihre Macht hinan zu dem Geistigen und Erhabenen, das sie mit der Niedrigkeit und Einfalt anmuthig vereinigt. So bindet sie endlich die Seele und die Tugend des Menschen selbst an das Aeußere und Leibliche, und mit vergeistigter reinerer Gewalt beschirmt sie als schützende Wehr den Frieden des Lebens. Denn, wo keine Gewalt der Sitte ist, da ist auch keine des Gesetzes (vrgl. Mode).
August von Kotzebue.[]
- [1804]
Baden, in der Schweiz. Hier fand ich eine Verordnung des Sittengerichtes angeschlagen, die eben kein Kompliment für den Geist unserer Zeit ist. Sie soll im Ganzen eine anständigere Beobachtung der Sonntagsfeier einschärfen: sie verbietet Spielen, Tanzen, Vogelschießen, Fischefangen, Schwimmen u. dgl. am Sonntage, und befiehlt: "daß alle verheirathete Bürger in der Kirche in Mänteln, die ledigen aber in Röcken und nicht Jäckerlen erscheinen sollen." "Das Frauenzimmer (heißt es weiter) wird im Anzuge jenen Anstand beobachten, der der Heiligkeit des Ortes, der Reinigkeit ihrer Gesinnungen, so wie der Schamhaftigkeit Ehre macht." -- Ich möchte in der That wohl einmahl unsere vermummten Urältermütter mit ihren halbnackten Urenkelinnen in die Kirche gehen sehen; wie schnell würden jene in ihre Gräber zurückkehren, und sich auf die Gesichter legen, um der entflohenen Scham unserer jungen Mädchen nicht nachschreien zu müssen! -- Uebrigens gereicht es der Schweiz zur Ehre, daß sie Sittengerichte hat; das kündigt doch zum mindesten ein Bestreben an, die Sitten zu erhalten. Es fällt mir eben sonst kein Europäisches Land ein, wo man dergleichen fände. Gebäude, die den Einsturz drohen, pflegt man wohl zu stützen, damit sie die Vorübergehenden nicht todt schlagen. Sittenvernichtung aber, die nur Seelen vergiftet, läßt man in Gottes Namen um sich greifen, wie vor ein paar Jahren die Fichtenraupe, bis die Menschen eben so saftlos dastehen, wie die Bäume in jenen verheerten Wäldern.
Quellen.[]
- ↑ Deutsche Taschen-Encyklopedie oder Handbibliothek des Wissenswürdigsten in Hinsicht auf Natur und Kunst, Staat und Kirche, Wissenschaft und Sitte. Vier Theile mit 50 Kupfern. Leipzig und Altenburg: F. A. Brockhaus. 1816.
- ↑ Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. von August von Kotzebue. Berlin 1804 bei Heinrich Fröhlich.