Von Bastille bis Waterloo. Wiki

Von Reisende.[]

Carl Theodor von Uklanski.[]

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Anstalt der Taubstummen.

Den 28. Dec. 1807.

Ich habe einer Vorlesung des Abbe Sicard's in dieser Anstalt beigewohnt. Sie dauerte drei völlige Stunden, und er würde wohl noch nicht aufgehört haben, wenn er nicht der Ungedult seiner Zuhörer nachgegeben, welche schon anfiengen sich zu verlaufen. Sein Vortrag ist äusserst lebhaft, voll Mimik, nicht gerade logisch, aber mit muntern Einfällen und Sarkasmen vermischt, von denen ich ihn einen, freilich sehr wahren, les ignorans sont commodes, öfters wiederholen hörte.

Im Ganzen sah man, daß er ihn für ein sehr gemischtes Publikum eingerichtet hatte, d. h. éminemment français, wie sich ein Zeitungsblatt dieser Tage über den Geist der voltaireschen Werke ausdrükt, und sich selbst durch essentiellement frivole et léger jusque dans les sujets les plus graves erklärt. Dies schließt aber gar nicht aus, daß nicht hie und da sehr pathetische Stellen vorkamen, die mir aber ausser dem Plaz schienen, wenn sie gleich die, dieser Nazion so sehr beliebten Kontraste bildeten. Dieser Ton veränderte sich übrigens, so bald er nicht mehr zu dem Publikum, sondern von sich selbst sprach. Offenbar verbarg der ehrliche Mann hier die Freude über das: ich hab's gefunden, ein Bißchen zu wenig, und ermüdete seine Zuhörer mit methaphysischen Spekulazionen und Etymologien, von denen die Meisten nichts verstanden. Einem Manne von Sicard's Verdienten verzeiht man aber eine kleine Schwachheit gerne, die in seinen Verhältnissen um so natürlicher ist, da er seine meiste Zeit unter Menschen verlebt, in deren Augen er das erste aller Wesen ihrer Gattung sein muß, weil sie nur durch seine Hülfe mit dieser in Verbindung gesezt werden.

Die Kunststücke, welche er seine Schüler machen läßt, sind bekannt. Sie verlieren viel von ihrem Ueberraschenden, weil man zu deutlich sieht, wie sie auf alles gefaßt sind, und weniges nur Wirkung und Eingebung des Augenbliks ist. Taubstumme sind Naturmenschen, und es ist widerlich, einen solchen vor sogenannten gebildeten Menschen seine Künste zeigen, das heißt, die reinen Klänge der Natur hören zu lassen.

Sicard hat sich verschiedene Taubstummen als Lehrer nachgezogen. Sie sind in Alter und Ausbildung verschieden, und der Erste und Aelteste unter ihnen, Massieu, übertrift die andern weit. Er ließ sie die Definizion von circonspect, parasit u. dergl. mimisch darstellen. Sie gaben sie alle ganz verständlich; bei Massieu hingegen wurde jede Definizion zu einer Art von Drama, das den ganzen Sinn dieser Worte durchlief, und eine Reihe von Darstellungen lieferte, welche den Karakter des Parasiten ganz vollständig aussprachen. Dieses sezte nun natürlich einen grossen Reichthum von Lebenskenntniß voraus, und sein Institut war wohl nicht der Ort, wo sie sich erwerben ließ. Er wurde dabei oft satyrisch, wie z. B. bei der Definizion des Worts Ambassadeur, die er dadurch gab, daß er mit beiden Ohren überall hinhorchte, und dann die Pantomime des Schreibers machte. Da man nun natürlich zum voraus wußte, was es zu bedeuten hatte, so war jeder damit zufrieden; sonst aber wäre sie offenbar unverständlich gewesen, indem er nur einen Theil des Geschäfts eines Gesandten ausgedrükt hatte. Uebrigens gerieth er dabei in die größte Hitze, gestikulierte mit Heftigkeit, und lallte in seinem Eifer oft unartikulierte Töne.

Das Bewundernswürdigste bei dieser Zeichensprache sind die grammatikalischen Bestimmungen der verschiedenen Abstufungen des Vergangenen, des Zukünftigen u. s. w. Die Zeichen für einzelne Buchstaben aber sind natürlich nicht schwerer, als die Schriftzeichen derselben. Dies ist auch bei denen der Fall, welche blos Ideen bezeichnen, indem sie meist konvenzionell sind, und nichts erfodern, als daß die Vorstellung davon klar vor der Seele steht. Diese wird zum Theil selbst erwekt, sobald man alle sinnlichen Gegenstände und ihren nächsten Zusammenhang erkannt hat, und der Lehrer kann es eben nicht sehr schwierig finden, der Natur nachzuhelfen, und dies um so weniger, da die Begreifungsfährigkeit der Taubstummen, so wie ihr Scharfsinn, auffallend grösser sind, als man sie in der Regel bei andern Menschen findet. Der Mangel des Einen Sinns kommt ihnen dabei treflich zu statten; denn die Sinne sind die ewigen Hindernisse der Seele, und um zu ihrer schönsten Entwiklung emporzusteigen, muß sie sich ja alle dieser Last entladen, durch welche sie an die Erde gefesselt ist.

Man legte ihnen Fragen vor, d. h. der Abbe Sicard selbst that es: was ist für ein Unterschied zwischen Stärke und Muth? Die Antworten der drei verschiedenen taubstummen Unterlehrer kamen einander so ziemlich gleich. Sie waren originell, verriethen aber doch den Geist ihrer Nazion, indem sie die Aufgabe mehr mit esprit, als mit gründlicher Vernunft lösten. Einer nannte die Feigheit z. B. die Fesseln des Herzens. Es schien überraschend; allein man findet das bei näherer Zergliederung nichts weniger als bestimmend. Wenn ich auf die obige Frage antworte: die Stärke hilft nichts ohne den Muth, der Muth wenig ohne die Stärke, so kann man das doch wohl keine Definizion nennen. Bei den Franzosen heißt es aber so.

Ein Gleiches dürfte auch bei Massieus berühmten Antworten der Fall sein, die ich hier hersetzen will. Was ist ein Sinn? -- Ein Ideenträger (porte-idée). -- Was ist Gott? -- Das nothwendige Wesen, die Sonne der Ewigkeit. -- Was ist die Ewigkeit? -- Ein Tag ohne ein Gestern und Morgen. -- Was ist die Dankbarkeit? -- Das Gedächtniß des Herzens. -- Wem aber freilich dergleichen Definizionen nicht lieber sind, als jede strenglogische!

Während dieser Vorlesung mußte ich mich selbst fragen:

Ist dieser Unterricht den armen Menschen wirklich so nüzlich, so unentbehrlich, als er scheint?

Ich glaube, nein.

Werden sie durch denselben mit der äussern Welt in Verbindung gesezt?

Nein; denn sie haben eine Sprache, die diese nicht versteht.

Bedürfen sie des Unterrichts, um einander selbst verständlich zu werden?

Nein. Die Natur selbst ist erfinderisch genug in ihnen, und wenn eine Gesellschaft Taubstummen zusammenlebt, so werden sie sich bald und über alles verstehen.

Haben sie so mancher fremden Ideen, so vieler Uebung ihres esprit nöthig, um ein nüzliches Gewerbe zu lernen?

Nein. Die Nachahmung ist die beste Lehrerin, und der eigene Geist, der in ihnen wohnt, wird ihre Vervollkommnung von selbst befördern.

Man sagt mir, daß in Frankreich gegenwärtig etwa 4000 Taubstumme seien. Unter 10,000 Menschen ist also immer ein dergleichen Unglüklicher. -- Es scheint mir viel, und ich möchte wissen, ob bei andern Nazionen ein ähnliches Verhältniß statt findet. Es wird doch wohl in Frankreich die Sünde der Väter nicht an den Kindern heimgesucht werden!

Ich konnte mich einige Zeit mit einer Träumerei beschäftigen. Wenn die französische Regierung eine Kolonie von lauter Taubstummen anlegte, und sie sich nur, so viel wie möglich von Aussen ungestört, unter sich fortpflanzen liesse, was würde das Resultat davon sein?

Offenbar ist kein Grund, als blos ein politischer, wenn man diesen Menschen die Fortpflanzung verbieten will. Die Gesellschaft hat das Recht, sich dieser Ueberlästigen (denn das sind sie ihr doch) zu erwehren. Wie könnte sie es besser, als wenn sie sie alle zusammenbrächte, und unter der Leitung einiger der Besten unter ihnen für sich bestehen liesse? Dem Beobachter würde eine solche Taubstummenrepublik vom höchsten Interesse sein, und es ist kein Zweifel, daß die Resultate derselben für uns vom größten Nutzen werden dürften. Allein wird nicht bald der Krieg aller gegen alle, welches doch der Naturzustand ist, daraus entstehn? Und müßte nicht gerade die größere Leidenschaftlichkeit dieser Menschen, und ihre ansehnlichere Körperstärke mit andern Seelenkräften, welche sie in höherm Grade besitzen, bald den Ruin der kleinen Republik herbeiführen? -- Freilich braucht man nur recht fest an die ursprüngliche Güte der Menschen zu glauben, um die Idee eines solchen Staats sehr reizend zu finden; und wer hat nicht schon, wenigstens auf Augenblicke, an jene Güte geglaubt? -- Sie hat meine Fantasie eine Zeitlang beschäftigt; aber am Ende fand ich, daß diese Kolonie vielleicht zu nichts weiter nüzlich sein würde, als um daraus das Corps der Bizehamdylsiz, oder Stummen, des Großherrn zu rekrutieren.

Auffallend sind übrigens die Physiognomien der meisten dieser Taubstummen. Bei der männlichen schien mir der Ausdruk von Lebhaftigkeit, Reizbarkeit und Schlauheit, bei den weiblichen von Ruhe, Hingebung und Seelengüte der herrschende zu sein. Dabei hat die Natur den leztern gewöhnlich die Gabe der Schönheit und Anmuth verliehen, und ich wundere mich gar nicht, wie ein sehr ansehnlicher Mann dieser Stadt, von dem man mit erzählt hat, eines dieser guten Geschöpfe aus Liebe zur Gattin wählen, und nach acht Tagen ihrer Ehe schon mit ihr über alles unterhalten konnte, was ihre Liebe mitzutheilen bedurfte.

Nie werde ich diese Menschen übrigens unglüklich nennen, wie man so oft hören muß. Zeigt eins dieser achzig Gesichter von Sicard's Schülern, daß sie uns andre beneideten, oder wenigstens eine für sie kränkende Vergleichung anstellten? Ich habe auch nicht eines bemerken können, das etwas der Art verrathen hätte. Sie waren alle fröhlich, und fröhlicher als wir. Mancher Gedanke, der uns drükt, erreicht sie nicht. Der einzige mangelnde Sinn hat viel Böses und Niederschlagendes vor ihnen verhüllt. Manche Laster sind unter ihnen gar nicht einmal möglich, wie z. B. das der Schwazhaftigkeit. Sie müssen einander wärmer und ungestörter lieben, weil sie einander mehr bedürfen, und weniger beleidigen und hassen können.

Wer da glauben möchte, daß die Langeweile ihre Qual sei, dem könnte man antworten: die Langeweile ist jedes Müssigen Qual. Sie sind beschäftigt, und können sich also nicht langweilen. Wer aber viel auf die Freuden der Gesellschaft und die Annehmlichkeiten einer guten Unterhaltung hält, wird sie beklagen. Er spare sein Mitleid. Die Unterhaltung dieser Menschen ist weit interessanter als die unsrige. Jede Erzählung, jeder Gedanke selbst wird bei ihnen zum Gemählde. Ihr Gespräch kennt die lieblichen rien's der unsrigen nicht. Sie können nichts Unbedeutendes sagen, weil alles bei ihnen zur plastischen Darstellungen wird, und das Auge, das den Dienst des Ohrs vertritt, offenbar beschäftigter ist, als dieses, welches in unsern Gesellschaften so oft nur da zu sein scheint, weil es einmal da ist.


Quellen.[]

  1. Ansichten von Paris. Nihil admirari. Zürich, bei Heinrich Geßner, 1809.